Was lange währt, wird richtig gut

9 Monate, 1 Woche her - 26. Juli 2023, autobild
Was lange währt, wird richtig gut
Verspätung gibt’s nicht nur bei der Bahn, sondern auch bei Audi, doch jetzt soll der Q6 e-tron bald durchstarten. Erste Fahrt mit dem Prototyp.

Seit Jahren ist die Rede vom Audi Q6 e-tron. AUTO BILD hat bereits 2018 das erste Mal über das neue Elektro-SUV berichtet, eigentlich sollte es schon vergangenes Jahr auf die Straße rollen – doch daraus wurde nichts. Schuld an der Verzögerung: das Sorgenkind des Volkswagen-Konzerns, die Software. Mittlerweile aber wollen die IT-Experten Bits und Bytes geordnet haben, Ende des Jahres wird der Q6 e-tron seine Premiere feiern

Ob die Software wirklich rund läuft, können wir nach der ersten Runde mit dem noch stark getarnten Prototyp nicht sagen. Während die Erlkönigfolie äußerlich mehr verrät als verhüllt – etwa die zweigeteilten Scheinwerfer, die bullige Front oder die kräftige Schulterpartie hinter den Fondtüren –, ist im Cockpit alles mit schwarzem Stoff verhängt. Nicht mal einen kleinen Blick auf das Infotainment-System will uns Audi gewähren.

Ab und an ertönt ein Pling, ob eine und wenn ja welche Fehlermeldung dahintersteckt, bleibt unter der Tarndecke verborgen. Aber: Software bedeutet ja nicht nur Kombiinstrument, Navigationssystem oder Radio – sie ist vielmehr auch dafür verantwortlich, dass das Auto überhaupt fährt. Und das, so viel können wir sagen, tut es!  

Der Q6 e-tron liegt satt auf der Straße
Und zwar ausgesprochen gut: Wir steuern hier keine knarzenden und klappernden Versuchsträger, sondern ausgereift wirkende Vorserienmodelle. Der Q6 e-tron liegt satt auf der Straße, federt geschmeidig und lenkt präzise ein. Wirkt der kleine Bruder Q4 e-tron (nicht nur) beim Fahren oft ein wenig emotionslos, merkt man, dass hier viel Gehirnschmalz und Herzblut in die Entwicklung geflossen sind.

Das Gute daran, ohne Multimediasystem unterwegs zu sein: Nichts lenkt vom Fahren ab. Und weil aus dem Radio keine Musik kommt, fällt auch auf, wie ausgesprochen leise der Audi ist. Selbst das E-Auto-typische Straßenbahngeräusch beim Anfahren haben die Ingenieure nahezu weggedämmt. Ob es einen künstlichen Fahrsound geben wird? Noch unklar.

Überhaupt hüllen sich die zur ersten Ausfahrt zahlreich angereisten Ingenieure und Entwickler noch sehr in Schweigen; wenngleich man ihnen ihre Begeisterung für das SUV anmerkt und sie wahrscheinlich am liebsten gleich alles ausplaudern würden. Länge? Zwischen Q4 und Q8 – wir sind ohne Maßband angereist, gehen aber von rund 4,70 Metern aus. Radstand? Etwa drei Meter, auf jeden Fall gibt es im Fond reichlich Platz, nach vorn und nach oben. Kofferraum: üppig. Dazu kommt ein überschaubarer Frunk unter der Fronthaube, der zumindest das Ladekabel problemlos aufnehmen dürfte.

Die WLTP-Reichweite soll bei über 600 km liegen
Apropos Laden: Geht es um die Elektrotechnik, werden die Experten redseliger. Basis für den Q6 e-tron ist die neue "Premium Plattform Electric" (PPE), an der Audi und Porsche gemeinsam arbeiten; in Zuffenhausen steht schon der Elektro-Macan in den Startlöchern. Von e-tron GT und Taycan hat die PPE unter anderem die 800-Volt-Technik geerbt.

Die 100-Kilowattstunden-Batterie (brutto) kann mit bis zu 270 kW geladen werden, im besten Fall fließt in zehn Minuten Strom für 250 Kilometer Reichweite in den Akku. Die WLTP-Reichweite soll bei über 600 Kilometern liegen, im Alltag realistisch dürften Werte von deutlich über 400 Kilo­metern sein. Was der Q6 verbraucht? Hier schweigen die Audianer wieder. Wir schätzen rund 18 Kilowattstunden pro 100 Kilometer – und zumindest widerspricht niemand energisch.

Hängt natürlich auch von der Fahrweise ab. Die erste Runde drehen wir im Q6 e-tron 55, der mit 380 PS aus zwei Elektromotoren (einer vorn, einer hinten) freilich üppig motorisiert ist. Dem Gegenüber stehen aber auch schätzungsweise 2300, 2400 Kilogramm Auto, die bewegt werden wollen. Das geschieht souverän und unangestrengt, es ist aber auch nicht so, dass man nach dem Kavalierstart den Dackel auf der Rückbank aus den Polsterritzen ziehen müsste.
Über 500 PS im Boost-Modus

Das könnte schon eher im SQ6 passieren. Mit 490 PS legt das Sportmodell eine ordentliche Schippe drauf, im Boost-Modus werden sogar über 500 PS freigesetzt. Genug, um die Passagiere energisch in die Sitze zu drücken. Weniger als 4,5 Sekunden dauert der Sprint auf Tempo 100, und auch das Rausbeschleunigen aus der Kurve macht so viel Spaß, dass der Anspruch, beim Verbrauch vorne eine Eins stehen zu haben schnell ins Hintertreffen geraten dürfte. Erfreulich: Das S-Modell wirkt insgesamt straffer, aber nicht unbequem – das kennen wir von seinem Verbrenner-Bruder Q5 aus der

Vergangenheit anders.

Wie sich der SQ6 optisch vom Standard-SUV abhebt, ist noch nicht bekannt; beide sind identisch getarnt. Sicher ist: Die End­rohre werden den Unterschied nicht machen. Technik-Vorstand Oliver Hoffmann verspricht aber eine deutlich sichtbare Differenzierung. Und ergänzt ganz nebenbei, dass RS-Modelle noch eigenständiger sein werden.

Ob das eine Ankündigung des RS Q6 war oder allgemein für Elektro-Audi gelten soll – Sie ahnen es: noch unklar. Genauso wie bei Audi noch keiner über den Q6 e-tron Sportback reden will, der aber als gesetzt gelten darf. Die Schrägheck-Versionen sind Kassenschlager, der Aufwand in der Entwicklung verhältnismäßig gering.

Diverse Leuchtgrafiken durch 360 Dreiecke

Richtig viel Aufwand haben dagegen die Licht-Ingenieure um Stephan Berlitz betrieben, und zwar vor allem für Tagfahrlicht und Rückleuchten. Bis zu acht verschiedene Grafiken können über das Infotainmentsystem oder die Audi-App ausgewählt und der Q6 damit individualisiert werden. Vorn arbeiten klassische LED, hinten sogenannte OLED, also "organische Leuchtdioden". Insgesamt 360 leuchtende Dreiecke erlauben am Heck nicht nur verschiedene Leuchtgrafiken, sondern auch das Einblenden von Warndreiecken, um zum Beispiel Radfahrer vor aussteigenden Passagieren zu warnen oder andere Autofahrer, wenn der Q6 eine Notbremsung macht oder einem liegen gebliebenen Auto ausweichen muss.

Ein besonderes Highlight: das aktive Rücklicht. Statt einer festen Grafik wabern und funkeln die 360 OLED-Dreiecke sanft. Und zwar so, dass man es zwar merkt, es den Hintermann aber nicht irritiert. Aufwecken soll ihn dagegen das "Auffahrlicht": Kommt man dem Q6 zu nahe, zum Beispiel weil man an der Ampel aus Versehen das Rotlicht übersieht, gibt ein helleres Licht quasi das Stopp-Signal.

Das alles gibt es freilich nicht zum Schnäppchen-Preis. Wie zu erwarten war, hält sich Audi auch bei den Preisen noch zurück. Wer mit mindestens 60.000 Euro kalkuliert, liegt aber sicher nicht falsch. Und die meisten schönen Technik-Schmankerl werden dann auch noch extra zu bezahlen sein.
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Audi. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter www.axelspringer.de/unabhaengigkeit

Fazit
Der erste Eindruck: Das Warten hat sich gelohnt. Der Q6 e-tron wirkt solide, ausgereift und durchdacht, fährt sich so tadellos, wie man es von einem Audi erwartet. Wenn E-Technik und Software in der Praxis halten, was versprochen wird, ist das ein großer Wurf.

Uunterstützen die Ukraine