Tragweite für die Türkei. Denn dieses Leuchtturmprojekt baut auf der Hoffnung einer ganzen Nation auf.
Seit wenigen Tagen fahren erste Toggs auf türkischen Straßen. Das erste E-Auto der Nation ist so etwas wie ein Versprechen Erdogans an sein 85-Millionen-Volk, es soll die Keimzelle einer neuen automobilen Blütezeit werden. Die Botschaft lautet: „Seht her, wir können das auch.“
Fünf Magnaten für ein Auto
Hinter Togg stecken Schwergewichte aus der türkischen Wirtschaft. Fünf Industrie-Riesen, jeweils die Größten in ihren Branchen, haben sich zu einem Konsortium mit dem Namen Türkiye`nin Ottomobili Girişim Grubu zusammengeschlossen und verzichten 15 Jahre auf jegliche Dividende. Umgerechnet investieren sie rund 3,5 Milliarden Euro. Der Hauptteil fließt in die nagelneue, hochmoderne Produktionsanlage in Gemlik, nahe der Industriestadt Bursa. Laut Togg „die sauberste Autofabrik Europas“.
Auf einer Fläche von 1,2 Millionen Quadratmetern sollen hier später mal 175.000 Fahrzeuge pro Jahr vom Band laufen. Fünf Modelle lassen sich parallel bauen. Aktuell das SUV T10X, ab 2024 kommen eine Stufenhecklimousine und ein Crossover dazu, ein Jahr später ein Kompakt-SUV und ein Van. Alle natürlich mit E-Antrieb. Weitere 2,2 Milliarden steckt Togg in die Batteriezellen-Fertigung des neu gegründeten Joint-Ventures „Siro“ mit dem chinesischen Akku-Hersteller Farasis Energy.
So viel Patriotismus kommt bei den stolzen Türken an. Trotz Rekordinflation, schwächelnder Wirtschaft und einem landesweit rudimentären Ladesystems von nur ein paar Tausend öffentlichen Stationen liefen in zwölf Tagen über 177.000 Bestellungen ein. Um die Ernsthaftigkeit zu untermauern, musste jeder 3000 Euro hinterlegen, 20.000 Fahrzeuge wurden in einer Lotterie an künftige Besitzer verlost.
Ist der Hype gerechtfertigt? Schwer zu sagen. Zunächst einmal ist das 4,59 Meter lange SUV ein adrettes Bürschchen. Modern und mit stimmigen Proportionen von Pininfarina eingekleidet, steht der T10X auf der selbst entwickelten Plattform stämmig da. Vorne dominiert ein Chrom eingefasster Grill, inspiriert vom Design der Tulpe, einem tief verwurzelten Symbol Anatoliens. Hinten hält ein schmales, durchgehendes Leuchtenband ein kräftiges Heck zusammen.
Karakas und sein Türken-Tesla
Doch das Prestigeobjekt soll viel mehr sein als nur ein weiteres Elektro-SUV. Wer Togg-Chef Gürcan Karakas zuhört, fühlt sich an den frühen Elon Musk erinnert. Inbrünstig, emotional und voller Überzeugung preist der charismatische Ex-Manager von Bosch die Vorteile seines Türken-Teslas in fließendem Deutsch an. Parallelen zum kalifornischen Elektro-Pionier sind durchaus erkennbar. Wie bei Musk gab es für Karakas keine Alternative zum E-Antrieb, Verbrenner waren nie eine Option. Und wie die Teslas sollen Toggs eher fahrende Supercomputer sein. Karakas: „Wir bauen viel mehr als ein Auto, wir bauen digitale Ökosysteme.“
Dieses Ökosystem wird über die hauseigene App Truemore (eine Million Downloads in 40 Tagen) von den „Toggern“ gefüttert. Mit Truemore lassen sich automatisch die Maut bezahlen, Ladevorgänge organisieren und abrechnen, Parkplätze reservieren, Hotels buchen oder Restaurants reservieren - natürlich alles over the air aktualisierbar. Gemeinsam mit potenten Partnern will Togg eine Art belohnendes Punktesystem einführen, wonach man zum Beispiel fürs Laden Meilen bei Turkish Airways erhält - und umgekehrt fürs Fliegen ein Guthaben zum Laden.
Auto komponiert Lieblingsmusik des Fahrers
Die große digitale Welt spiegelt Togg im Auto auf einem mächtigen 41,3-Zoll-Display wider. Der beeindruckende, kristallklare Monitor ist frei konfigurierbar und streckt sich nahezu über die gesamte Fahrzeugbreite. Da ist dann auch viel „Spielkram“ für die Digital Natives 2.0 dabei. So stellen türkische Art-Designer ihre digitalen Werke ins System, gemalt von künstlicher Intelligenz. KI komponiert auch. In einer Endlosschleife spielt das Radio Klänge aus dem Lieblingsgenre des Fahrers ab, die es nur jetzt in diesem Augenblick und dann nie wieder gibt. Die Songs sind nicht reproduzierbar.
Bis zu 523 Kilometer Reichweite
Mit dem Ansatz, das Auto neu zu definieren, sind schon viele gestartet - und auch viele gescheitert. So banal es klingt, am Ende bleibt der T10X auch nur ein Fahrzeug mit vier Rädern, das sich an den Konkurrenten messen lassen muss. Damit das gelingt, hat sich Togg für die Entwicklung von Fahrwerk, Lenkung oder Bremsen Hilfe bei namhaften Zulieferern geholt. Die Plattform ist modular aufgebaut und für weitere Modelle skalierbar. Togg hat zwei Lithium-Ionen-Akkus mit 52,4 kWh und 88,5 kWh im Angebot, die Reichweiten geben die Türken mit 314 beziehungsweise 523 Kilometer an, auf die Batterien gewährt Togg die üblichen acht Jahre Garantie.
Togg lässt lange auf sich warten
An der Hinterachse sitzt ein Elektromotor mit 160 kW/218 PS, für Oktober ist eine Allradversion mit einem zusätzlichen Frontmotor und 320 kW/435 PS geplant. Alles Daten, die wir uns heute noch nicht merken müssen. Denn die Markteinführung außerhalb der Türkei ist frühestens für Ende 2024 geplant. Zunächst in Skandinavien. Unter der Hand sehen türkische Insider den späten Start kritisch. Schließlich wurde der T10X bereits vor zwei Jahren vorgestellt. Bis er zu uns kommt, hätte das Design schon Patina angesetzt.
Feinschliff erforderlich
Andererseits will Togg auf Nummer sicher gehen, wenn es in die Höhle der Löwen geht. Verständlich. Erste kurze Testfahrten zeigten, dass es vor allem dem Fahrwerk noch an Feintuning fehlt. In schnellen Kurven zeigt es sich unterdämpft, das SUV taucht tief in die Federn ein, wirkt dann nervös und recht instabil. Auch die Lenkung könnte eine bessere Rückmeldung vertragen. Die Verarbeitungsqualität der Vorserienautos ist schon ganz okay, wobei manches Kunststoffteil im durchweg veganen Innenraum besser entgratet sein sollte.
Etwa 50.000 Euro kostet der T10X in der Türkei, wo ein verwirrendes Steuersystem den Preis diktiert. Man sagt, das sei 20 Prozent unter Marktwert, um den Erfolg von Togg nicht zu gefährden. Ob man aber bei uns ausgerechnet auf einen türkischen SUV wartet, sei mal dahingestellt. Andererseits leben allein in Deutschland rund 2,9 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, in Österreich rund eine Viertelmillion - und die wären sicherlich sehr gerne stolze Besitzer des ersten türkischen Elektroautos.
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