Ducati Multistrada V4: Grenzwertiger Gipfelsturm

2 years, 4 months ago - 08. August 2022, Krone Zeitung
Ducati Multistrada V4
Ducati Multistrada V4
„Einmal alles, und das scharf“ wäre wohl ein guter Slogan für die Ducati Multistrada V4 S Sport. Mächtige 170 PS und ein Feuerwerk an Ausstattung vom superfein einstellbaren Fahrwerk über Kartennavigation bis hin zu Doppel-Radar mit Abstands-Tempomat und Totwinkel-Assistent.

Der Gipfel im Reiseenduro-Segment? Jein. Wir haben die Multi vollbeladen mit Gepäck und zwei Personen über Alpenpässe, Landstraßen und Autobahnen gescheucht - und sie dadurch an ihre Grenzen gebracht.

Herrlich steht sie da, ein Bild von einer Reiseenduro. Rot wie die Lippen einer Diva, Akrapovic für eine sexy Stimme, Carbonteile, dazu die genialen, optionalen Alu-Koffer samt Topcase. Die sind mit insgesamt 117 Liter Fassungsvermögen und diversen Ösen absolut reisetauglich. Trotzdem sieht man sie selten in freier Wildbahn. An einer Tankstelle in Cortina d’Ampezzo hat sie ein Einheimischer, der gerade seinen Honda Civic betankt hat, gleich fotografiert: „Die will ich für meine Multistrada V4 auch haben!“

Hätten nicht vielleicht die serienmäßigen Plastik-Seitenkoffer mit ein paar T-Shirts und Unterhosen, Zahnbürste und Handtuch gereicht? Nein. Nicht für zwei Leute und fast zwei Wochen. Und so bringt das Gepäck inklusive Koffern 55 kg auf die Waage. Körperpflegeutensililien samt Sonnencreme, zwei Laptops sowie eine massive Kette für eventuelle Übernachtungen in dunklen Seitengassen sind die schwersten Teile. Insgesamt überschreiten wir das zulässige Gesamtgewicht der Multistrada (470 kg, Leergewicht 240 kg) schätzungsweise um an die zehn Kilogramm.

Die Sache mit dem Gewicht
Sollte eigentlich kein Problem sein, schließlich hat sie einen automatischen Beladungsausgleich und passt hinten die Federvorspannung an, zudem vorne wie hinten die Dämpfung. Doch schon auf den ersten Metern fällt auf, dass das Vorderrad zu wenig Last abbekommt. Nicht gut für die Handlichkeit und auch nicht gut fürs Vertrauen ins Vorderrad auf Alpenpässen.
Umso erstaunlicher ist, dass die Italienerin später sogar bei 180 km/h auf der Autobahn völlig stabil geradeaus läuft. Zumindest mit auf „hart“ gestellter Dämpfung. Auf „mittel“ schwingt und eiert bei voller Beladung alles zu viel.

Top-Einstellmöglichkeiten
Neben der Federvorspannung (manuell/automatisch) lässt sich auch die Dämpfung über das 6,5-Zoll-Display anpassen. Und zwar ungewöhnlich fein. Es stehen fünf Stufen zur Verfügung (sehr weich, weich, mittel, hart, sehr hart), und das getrennt für Gabel und Schwinge. Vorbildlich!
Weniger vorbildlich ist, dass man diese Einstellungen nicht während der Fahrt vornehmen kann. Da kann man nur die Fahrmodi wechseln. Ein direkter Zugriff auf Feineinstellungen ist generell nicht möglich. Mal schnell das Fahrwerk etwas weicher/härter stellen oder die Traktionskontrolle schärfen? Geht nicht. Schade, weil ein direkter Vorher-nachher-Vergleich hilfreich wäre.

Man muss also im Stand die Fahrmodi konfigurieren (davon gibt es vier: Urban, Enduro, Touring, Sport). Also per Daumen am Joystick auf Einstellungen scrollen, bestätigen, Modus anwählen und Einstellungen vornehmen. Alles ganz easy, auch weil an einer Grafik der einzustellende Bereich rot markiert wird. Während der Fahrt drückt man dann auf den Fahrmodusknopf, wählt per Joystick den gewünschten Modus aus und bestätigt mit Druck darauf.

Brandneu dazugekommen ist die Möglichkeit, das Fahrwerk auf Knopfdruck abzusenken. Das kann klein gewachsenen Fahrern das Leben erleichtern. Besser wäre allerdings, wenn das automatisch passieren könnte, wie es Harley-Davidson bei der Pan America 1250 vormacht.

Die Pässe, bitte!
Die Anfahrt ins Kurvenreich wird locker abgespult, Fahrer und Sozia sitzen auch auf Dauer sehr bequem. Der Fahrersitz ist höhenverstellbar (840/860 mm). wenn auch leicht wackelig. Bei Pontebba verlassen wir die Autobahn und verabschieden uns für die nächsten Tage von längeren Geraden. Bis auf die Strecke von Bozen aus an Meran vorbei winken Pässe und sonstige Kurven. Apropos Pässe: Die haben wir kein einziges Mal gebraucht, obwohl wir im Lauf der Tour mehrmals die Schweizer Grenze passiert haben.

Je steiler und kurviger es wird, desto weniger ist die Multistrada in ihrem Element. Die Spitzenleistung von 170 PS ist da nicht viel wert, im unteren Drehzahlbereich ist der 1158-ccm-V4 regelrecht schwachbrüstig. Das maximale Drehmoment von 125 Nm steht erst bei 8750/min. zur Verfügung. Bergauf anfahren ist trotz des besonders kurz übersetzten ersten Gangs mehr Qual als Vergnügen. Dieser wird auch in Bergauf-Kehren häufig gebraucht, der zweite Gang ist da oft zu lang für die Motorcharakteristik. Im Prinzip fährt man immer mit mindestens einem Gang niedriger als mit einer BMW R 1250 GS.

Der Motor braucht Drehzahl
Das kann auf Dauer akustisch etwas stressig werden. Außerdem trägt es mit zum recht hohen Verbrauch bei. 6,8 Liter wahren es im Schnitt pro 100 Kilometer, ein Wert, der mit geringen Abweichungen bei fast jedem Tankstopp am Display stand (der Bordcomputer geht übrigens genau, wir haben nachgerechnet). Da würde man sich glatt einen größeren Tank wünschen. Zwar gehen sich mit den 22 Liter Volumen theoretisch über 300 Kilometer aus, in der Praxis hast du aber nicht immer eine Tankstelle zur Hand, wenn du eine brauchst, deshalb habe ich maximal nach 250 km getankt.

Ärgerlich: Die Duc hat zwar Keyless Ride, für den Tankdeckel muss man aber jedes Mal den Schlüssel zücken. Bei der Konkurrenz ist er in die Zentralverriegelung integriert. Da sich der Schlüssel irgendwann in seine Einzelteile zerlegt hat und der Bart begonnen hat, ein unabhängiges Eigenleben zu führen, hätte ich mir das erst recht anders gewünscht.

Zurück zum Getriebe. Man muss also öfter schalten als anderswo, theoretisch kann man sich dabei dank Quickshifter aber meist den Griff zum Kupplungshebel sparen. Der Assistent funktioniert zuverlässig in beide Richtungen und oft auch butterweich. Aber eben nicht immer. Für besseren Sozia-Komfort habe ich dann doch öfter gekuppelt.
Trotz sportlicher Auslegung des Bikes: Die Gasannahme des Motors ist geschmeidig, nie zu aggressiv.

Wie bitte? Brembo-Bremsen?
Wirklich überrascht war ich von den Bremsen. Faktisch sind sie vom Feinsten, vorne trägt die Multi eine 330-mm-Doppelscheibenbremse mit zwei radial montierten Brembo M50 Stylema Monoblock Vierkolben-Bremssätteln. Kurven-ABS ist Ehrensache. Tatsächlich muss man aber extrem am Hebel ziehen, damit sich was rührt. Und da rede ich noch nicht mal vom Bergabbremsen mit 480 kg Gesamtgewicht. Gruß nach Italien: Bitte schärfen!

Ein Segen: Die Assistenzsysteme
Meine Test-Multistrada hat etwas, von dem viele Motorradfahrer sagen „das braucht doch kein Mensch“: einen Radartempomaten sowie einen Totwinkelassistenten. Ich habe ähnlich gedacht, doch das hat sich mittlerweile geändert. Natürlich braucht man beim Spaßfahren keinen Tempomaten, der den Abstand hält. Aber beim braven Dahingleiten auf der Autobahn oder der Landstraße, in einer Baustelle vielleicht, kann es eine echte Entlastung fürs rechte Handgelenk sein, wenn es einige Zeit nichts zu tun hat, weil der (einstellbare) Abstand automatisch gehalten wird. Und es gibt die Sicherheit, dass man nicht versehentlich zu schnell wird. Ein Radar gegen das Radar sozusagen. Ich oute mich als Fan dieses Tools. Allerdings sollte man wie bei BMW die Radarfunktion abschalten können, damit man bei Bedarf mit klassischem Tempomat fahren kann.
Auch gegen den Totwinkelassistenten ist nichts einzuwenden. Es ist einfach eine zusätzliche Sicherheit, wenn am Rückspiegel ein gelbes Licht aufleuchtet, wenn ein Fahrzeug von hinten herankommt. Von links erwartet man das meistens, aber immer wieder passiert es, dass überraschend jemand rechts überholt, während man gerade die Spur wechseln will, und man ihn erst im letzten Moment bemerkt, weil man unaufmerksam war. Kennt das jemand? Jedenfalls ist das System perfekt umgesetzt.

Man muss aber auch dazusagen, dass der Totwinkelassistent hier weniger notwendig ist als anderswo. Weil: Man sieht mit den Rückspiegeln selten so gut wie auf der Multistrada. Sie sind weit genug draußen und groß genug. Besser geht’s nicht. Allerdings rinnt das Wasser heraus, wenn man nach einem Regen aufsteigt. Aber das hat man bei anderen auch.
Ein Fluch: Connectivity und Navigationssystem
So gut Ducati die fahrtechnischen Hightech-Features umgesetzt hat, so holprig ist die Sache mit der Handy-Integration.
Auf den ersten Blick schaut alles super aus. Am Tank ist ein Fach, in dem man das Handy unterbringen und per Kabel laden kann. Wow, denkt man sich.

Top ist auch, dass das Display fast vollflächig eine Navikarte anzeigen kann (und das gar nicht schlecht). Schon wieder wow! Aber in der Praxis ist nicht alles Gold, was glänzt. Das fängt damit an, dass das Handyfach zu schmal ist und das USB-Kabel bzw. seine Stecker immer im Weg sind. Und geht damit weiter, dass wegen der Motor-Abwärme das Handy ständig überhitzt (das Problem ist bekannt, Ducati arbeitet seit einem Jahr an einer Belüftung). Abgesehen davon ist das Fach nicht nur nicht versperrbar, es klappt auch jedes Mal auf, wenn man sich drauflehnt oder sich darauf abstützt (passiert oft, u.a. beim Absteigen). Vorsicht bei Regenfahrten! Deshalb taugt es auch nicht für die Unterbringung von Mautkarten in Italien.
Grundsätzlich braucht man zwei Apps: zum einen die Ducati-Connect-App, die für die Verbindung zwischen Handy und Bike zuständig ist und immer im Vordergrund laufen muss, zum anderen die Sygic-App für die Navigation. Das Ganze hat mehrere Probleme und hat uns Nerven, Stunden und Kilometer gekostet.
Die Verbindung bricht aus verschiedenen Gründen immer wieder ab. Meistens ist es die Hitze (siehe oben). Dann muss man anhalten, warten, bis das Handy abgekühlt ist, die Ducati-Connect-App schließen und neu aufrufen und die Verbindung neu herstellen. So weit, so mühsam.

Umständlicher geht es nicht. Eine Quelle dauernden Ärgernisses. Frage nach Borgo Panigale: Warum nehmt ihr nicht einfach Apple CarPlay? Oder findet eine andere zeitgemäße Lösung?

Tolle Grund-Skills
Was klassische Motorradeigenschaften betrifft, ist die Multistrada absolut top. Die Sitzposition ist wie gesagt erstklassig, auch auf langen Strecken. Die Bedienelemente am breiten Lenker sind großteils beleuchtet. Die Menübedienung ist logisch, wenn auch nicht an allen Stellen zu Ende gedacht. Man fühlt sich wohl an Bord.
Absolut perfekt ist die manuelle Windschildverstellung, die während der Fahrt mit einem Finger funktioniert. Auch die Mechanik der Alu-Koffer ist perfekt. Leider weist die Trägerplatte keinerlei Ösen auf, sodass die Befestigung von etwas anderem als dem Topcase etwas schwierig ist.

Dreierlei Heizung
Interessant ist die Kreativität bei Sitz- und Griffheizung. Letztere stellt man klassisch über einen Knopf am rechten Lenkerende ein, öfter drücken verändert die Intensität, wie üblich. Die Fahrersitzheizung ruft man per Joystick aus dem Menü auf und scrollt dann durch die Intensitäten. Während die Sozia einen eigenen zweistufigen Kippschalter direkt am Sitz hat.
Apropos Heizung: Die Motorabwärme nervt zwar im Handyfach, ist aber ansonsten ganz gut im Griff. Ich bin sogar kurze Strecken in kurzer Hose gefahren, ohne mich zu verbrennen (ja, sollte man nicht, aber bei 40 Grad im Schatten am Lago Maggiore hat mir die Sonne die Vorsicht verbrannt).

Und dann habe ich die Koffer abgenommen …
… und bin allein gefahren. Ohne das ganze Gepäck zeigt die Multistrada V4 ihren wahren Charakter, dann macht ihre Motorcharakteristik plötzlich Sinn. Und die Flügel an der Verkleidung. Und die ganze Auslegung überhaupt. Es ist ein Sportmotorrad mit blitzsauberer Rückmeldung aus der Gabel und einem gierigen Motor, der über die Drehzahl regelrecht zum Rasen verführt. Da macht dann auch der sonst etwas schmalbrüstige Sound etwas her und es wird gedreht, gedreht, gedreht.

Abgeregelt wird bei rund 11.400 Touren, da fährt man im zweiten Gang 134 km/h. In echt werden das etwa 126 km/h sein, der Tacho eilt ganz schön voraus. Die per Sechs-Achsen-Gyrobox geregelte, einstellbare Traktionskontrolle regelt blitzsauber

Vom Lago Maggiore aus findet man herrliche Strecken, die teilweise in Italien bleiben, teilweise in die Schweiz führen. Wer ein paar Schritte wandern will, kann z.B. nach Alpe Devero fahren. Die paar Euro für das letzte Stück zahlen sich aus.
Apropos Euro. Das Basismodell der Ducati Multistrada V4 kostet 23.195 Euro. Das Testbike ist die V4 S Travel Full um 31.295 Euro, die praktisch alles serienmäßig hat, was gut und teuer ist, bis hin zu den Kunststoff-Seitenkoffern. Die hier verwendeten Alukoffer kosten mit Montage gut 3000 Euro. Die bestausgestattete V4-Multi ohne Koffer ist die V4 S Radar um 27.695 Euro, der dann nur der Akrapovic-Schalldämpfer und der Carbon-Kotflügel vorne fehlen.

Unterm Strich
Die Ducati Multistrada V4 als Gipfel des Reiseenduro-Segments zu bezeichnen, kann nur Missverständnisse auslösen. Einerseits stimmt das, denn es gibt keine sportlichere und wenn man richtig andrückt, kommt ihr wohl kaum eine Konkurrentin nach. Andererseits muss man in der Reise-Kategorie einige Abstriche machen. Navigation, Connectivity, Verbrauch, da lässt sie viel liegen. Und auf das Fahren mit wirklich viel Gewicht ist sie einfach nicht ausgelegt. Man kann nicht alles haben. Beziehungsweise kann man schon alles haben, aber eben nicht alles gleich gut. Wenn zwei Leichtgewichte den gleichen Ausflug machen, sagen wir mit 75 und 50 kg Lebendgewicht (was 435 kg Gesamtgewicht bedeuten würde), sieht es fahrdynamisch wahrscheinlich etwas anders aus.
Also ja, die V4-Multi bietet einmal alles und hat es am liebsten scharf, ist also wie gemacht für den flotten Alltag und die zügige Feierabendrunde. Für gelegentliche Reisen zu zweit braucht es halt ein wenig Geduld und/oder Leidensfähigkeit. Oder heißt das Leidenschaftlichkeit?

Warum?
Erstklassiges semiaktives Fahrwerk
perfekte Windschildverstellung
perfekte Außenspiegel mit ideal integrierter Totwinkelwarnung
Top-Radartempomat
perfekte Alukoffer

Warum nicht?
Navi/Connectivity extrem mühsam
Bei Ausreizen der Zuladung überfordertes Fahrwerk
Hoher Verbrauch

Oder vielleicht …
… BMW R 1250 GS, KTM 1290 Super Adventure S

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