Es gibt Dinge, die sind einfach nur dumm. Der Deutschen Post eine Briefkastenfirma als Kontaktadresse zu nennen gehört zweifelsohne dazu. Denn niemand in Deutschland kennt sich mit richtigen und falschen Adressen besser aus als das Bonner Unternehmen. Niemand hat größere Datenbanken, um Irrläufer aufzuspüren und Schummeladressen zu enttarnen.
Dem Vorstand von Daimler ist genau das passiert. Über eine Tarnfirma wurde ein Elektroauto des Logistikriesen zur diskreten Prüfung ausgeliehen. Die Post hat die Manager erwischt - und das macht den Vorgang für den Automobilkonzern nun so richtig peinlich.
Zugetragen hat sich die ungewöhnliche Geschichte im April dieses Jahres. Ausgangspunkt war der Post Tower in Bonn. Dort herrschte in jenen Tagen fast schon ausgelassene Stimmung, dem sonst eher biederen Logistikunternehmen war nämlich ein echter Scoop gelungen: Kurz zuvor hatte Briefvorstand Jürgen Gerdes den Ausbau der Produktion seines mit Ingenieuren der Hochschule Aachen entwickelten E-Transporters angekündigt - eines knatschgelben Kastenwagens mit einer Reichweite von knapp 80 Kilometern und einer Spitzengeschwindigkeit von 85 Stundenkilometern. Mit ihm will die Post in Zukunft in allen Ballungszentren emissionsfrei und geräuschlos ihre Briefe und Pakete zustellen.
Die Reaktionen aus Politik, Öffentlichkeit und von den Kunden auf den Elektrotransporter waren überwältigend. Viele Kommunen bewarben sich als Standort für die Produktion des Autos, andere wollten Pilotstädte für die umweltfreundliche Paketbeförderung werden. Politiker lobten das Postauto als richtungsweisend für die E-Mobilität. Und zahlreiche Kunden des Logistikriesen fragten an, ob sie den "Streetscooter", wie die Post ihren Elektrotransporter nennt, auch kaufen und für eigene Zwecke einsetzen könnten.
Da die Aachener Ingenieure das Auto zu diesem Zeitpunkt bereits zur Serienreife entwickelt hatten und bereit waren, bis zu 10¿000 Stück in einer umgebauten Waggonfabrik in Aachen vom Band zu schieben, reifte bei Gerdes und Streetscooter-Chef Achim Kampker ein verwegener Plan. Das Auto, glaubten sie, könne nicht nur für den Eigenbedarf der Post, sondern auch für andere Betriebe wie Handwerksfirmen, Lieferunternehmen oder auch Konkurrenten interessant sein. Dazu müssten lediglich die Aufbauten angepasst werden.
Um die Bedürfnisse der möglichen Käufer besser kennenzulernen, startete die Post eine Art Testbetrieb. Unternehmen, die sich für den Streetscooter interessierten, konnten das Fahrzeug ausleihen, um dem Unternehmen dann ihre Wünsche und Kritik mitzuteilen. Vom Pizzaservice bis zum Dachdecker war alles dabei, erinnert sich Kampker. Auch ein Pflegedienst aus Frankfurt am Main lieh einen Transporter. Er wollte prüfen, ob sich die Postautos für Krankentransporte eigneten.
Nichts Ungewöhnliches, sollte man meinen. Hätte der Computer der Post, in den ein Mitarbeiter kurz nach der Abholung des Fahrzeugs die Adresse einpflegen wollte, nicht eine Warnung ausgespuckt: "Firma nicht bekannt, Briefkastenadresse?"
Bei der Post wurde man stutzig und alarmierte die Ingenieure in Aachen. Dort nahm Kampkers Team kurze Zeit später die Ortung des Fahrzeugs auf. Was der vermeintliche Pflegedienst offenbar nicht wusste: In den Postautos war für den Testbetrieb ein GPS-Sender verbaut. Und so konnten die Aachener Autobauer live am Bildschirm zusehen, wie sich der Wagen zielstrebig nach Stuttgart bewegte. Dort fuhr das Auto nach einer kurzen Pause auf das Werkgelände von Daimler, um dort einige Zeit später auf der Teststrecke aufzutauchen.
In Bonn und Aachen reagierte man fassungslos: ausgerechnet Daimler! Nur wenige Jahre zuvor hatte Gerdes in der Zentrale des noblen Autobauers gesessen und geradezu darum gebettelt, dass ihm Daimler einen Elektrotransporter entwickelt. Der Post-Vorstand fürchtete, dass die Dieselfahrzeuge bei steigenden Paketzahlen und mehr Zustellfahrten in den Innenstädten nicht mehr akzeptiert würden. "Irgendwann drohen Fahrverbote", argumentierte Gerdes. Das müsse man vermeiden.
Doch die Daimler-Manager ließ der Wunsch eines ihrer größten Kunden kalt: Zu teuer, zu früh und zu unausgereift sei das Vorhaben.
Damit nicht genug: Nachdem die Post begonnen hatte, ein eigenes Auto zu konstruieren, ließ Daimler kaum eine Gelegenheit aus, sich über die vermeintlich schlechte Qualität des Gefährts zu äußern. Selbst hochrangige Vorstände lästerten: Das Teil sei so schlecht abgedichtet, dass die Pakete nass würden. Von Fahrerkabine und Fahrwerk gar nicht zu reden.
Und nun stand genau jenes Vehikel auf dem Werkgelände von Daimler, wurde von Ingenieuren vermessen, inspiziert und anschließend auf die werkeigene Teststrecke geschickt. "Ein klarer Fall von Werkspionage", sollen Post-Manager getobt haben. Streetscooter-Chef Kampker entsandte umgehend einen Mitarbeiter und zwei Juristen, um das gekaperte Auto in Stuttgart wieder einzusammeln.
Nur wenige Stunden später schlug die kleine Truppe beim Pförtner am Daimler-Werktor auf. Das gelbe Postauto, das sich auf dem Werkgelände befinde, wolle man zurückholen. Es sei ihr Eigentum, erklärten sie dem Mitarbeiter.
Der Mann reagierte irritiert. Der "Daimler-Entwicklungsvorstand sei mit dem Fahrzeug vor wenigen Minuten noch einmal auf die Teststrecke gefahren", soll er erklärt haben. Die Streetscooter-Juristen verlangten die sofortige Herausgabe.
Gut eine halbe Stunde später brachte ein Fahrer das Auto an die Pforte - keine Entschuldigung, keine Erklärung. Erst am Tag darauf ließ Daimler die Unternehmen wissen, das Anmieten von Testfahrzeugen über solche Scheinfirmen sei ein "gängiges Verfahren" in der Autoindustrie. Genauso selbstverständlich offenbar wie die zweifelhaften Absprachen der fünf großen Autobauer in geheimen Arbeitsgruppen, denen jetzt die Wettbewerbsbehörde in Brüssel nachgeht (siehe Spiegel 30/2017).
Auch auf Anfrage des SPIEGEL bleibt Daimler bei dieser Haltung: Die Post habe im April angekündigt, Streetscooter auch an Dritte verkaufen zu wollen. Sich solche Autos über Drittfirmen zu Vergleichsfahrten zu beschaffen sei branchenüblich. Es sei nicht Pflicht des Anmieters zu prüfen, ob die Verleihfirma zur Vermietung des Fahrzeugs berechtigt ist.
In Bonn hat man Konsequenzen gezogen. Vor wenigen Tagen präsentierte Gerdes ein drittes Streetscooter-Modell, das in Kooperation mit dem US-Autobauer Ford produziert wird. Denn das Erlebnis mit Daimler ist nicht die einzige schlechte Erfahrung, die man bei der Post mit den deutschen Autobauern gemacht hat.
So wurden die Streetscooter in den ersten Monaten von Werkstätten eines großen Autobauers gewartet, weil die Post kein eigenes Werkstattnetz hatte. Da seien die Autos bewusst vernachlässigt und schlecht repariert worden, erinnert sich ein Streetscooter-Mitarbeiter. Man habe sogar Fahrzeuge losgeschickt, bei denen die Bremsen falsch gewartet oder die Motorhauben nicht angeschraubt waren. Unfälle seien der Post angekreidet worden.
Auch aktuell beschäftigt die Aachener Ingenieure ein dubioser Fall. Nur wenige Tage bevor die Post beim zuständigen Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) die Großserienzulassung für das bisher in geringen Einheiten produzierte Fahrzeug beantragen wollte, machten die Beamten dort eine ungewöhnliche Entdeckung: Drei kleine Bauteile des Autos, ließen sie die Streetscooter-Entwickler wissen, besäßen in Summe einen Anteil von 1,6 Gramm Blei. Das ist nach einer neuen EU-Verordnung verboten. Während genau diese Teile bei Konkurrenzfahrzeugen noch hunderttausendfach verbaut werden, erhielt das Postauto nicht die gewünschte Zulassung.
Für Streetscooter kein großes Problem: Die Komponenten werden ausgetauscht, die Zulassung verzögert sich um wenige Wochen. Doch der Vorgang macht nachdenklich. Nach dem unfreiwilligen Ausflug des Autos nach Stuttgart vermutet man in Aachen, es könnte sich um einen gezielten Tipp eines Konkurrenten handeln.
Daimler sagt vorsorglich, man rede mit dem KBA nur über eigene Fahrzeuge. Und dennoch: Ganz unbegründet ist der Verdacht wohl nicht. Die Mitarbeiter des KBA pflegen seit Jahrzehnten beste Kontakte zur Autoindustrie. Sie gelten als kooperativ und wenig risiko- und entdeckungsfreudig, wie die Aufarbeitung des aktuellen Dieselskandals zeigt.
Dass sie nun ausgerechnet beim Streetscooter drei Miniaturteile mit einem Bleigehalt von 1,6 Gramm samt der dazugehörigen EU-Verbotsverordnung gefunden haben sollen, lässt selbst Vorgesetzte im Berliner Verkehrsministerium schmunzeln.
Related News