Zwei Plattformen für eine Goldene Zukunft

1 Jahr her - 16. September 2023, auto motor und sport
Zwei Plattformen für eine Goldene Zukunft
Mit zwei komplett neuen Elektro-Architekturen steigen BMW und Mercedes 2025 in das Mittelklasse-Segment ein. Ein erster Vergleich von Neuer Klasse und CLA auf MMA-Basis zeigt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Ist es Zufall oder tatsächlich Kalkül, dass sowohl BMW als auch Mercedes bei ihren IAA-Premieren auf die Farbe Gelb setzen? In der Farbpsychologie steht das ja für jugendliche Heiterkeit und positive Gefühle. Man möchte offensichtlich junge, aufgeschlossene Interessenten ansprechen – bei solch modernen Elektro-Konzepten sicher nicht verkehrt. Doch Gelb seht wie Grün auch für die Hoffnung. Und die scheinen BMW’s Neue Klasse und die neue Modulare Mercedes Architektur (MMA) für eine ganze Autonation zu wecken.

IAA 2023

Auch wenn beide Hersteller die ersten Serienmodelle ihrer jeweiligen Plattformen erst für 2025 ankündigen, so verbreiten die bisher bekannten technischen Daten schon reichlich Optimismus. Das klare Bekenntnis zur Elektromobilität kommt spät, aber eindrucksvoll. In München schlägt man allerdings einen ganz anderen Kurs ein als in Stuttgart. Ein erster Blick auf die verschiedenen Routen.

Konträres Design mit vielen Gemeinsamkeiten
Der auffälligste Unterschied zwischen Neuer Klasse und CLA Concept liegt im Design. Während der Bayer klassisch kantig, seine Shark-Nose und viel Fensterfläche zeigt, duckt sich der CLA mit seinen Rundungen regelrecht in die bestmögliche Windkanal-Form. Beim BMW fallen nicht nur die lange Fronthaube und das bullige Heck auf, sondern auch die vergleichsweise schmalen Fensterflächen. Die besitzt zwar auch der aktuelle CLA schon, bei der etwas gewachsenen Studie wirkt das "Greenhouse" jedoch noch kompakter.

Einig sind sich BMW und Mercedes bei der Priorität für Lichttechnik. BMW verwandelt sowohl die breiten Nieren als auch einen dicken Streifen am Heck in eine komplette Licht- und Projektionsfläche. Mercedes setzt dagegen auf das leuchtende Sternmuster, das sowohl in Scheinwerfern, an Rücklichtern und als Sternenhimmel an der gesamten Front zu finden ist. Auch die vorn wie hinten umlaufende Chromleiste kann illuminiert werden. Animierten Lichtshows und auffälligen Coming-Home-Inszenierungen sind damit kaum noch Grenzen gesetzt.

Innenräume: Öko-Studi-Zimmer gegen High-Tech-Zockerbude
Um die gänzlich unterschiedlichen Interieur-Konzepte von BMW und Mercedes zu verstehen, bedarf es einer Erklärung. Gut – das Mercedes-Cockpit der Zukunft ist eine Weiterentwicklung der längst eingeführten MBUX-Architektur. Große Bildschirme, eine komplett digitale Umgebung und beleuchtete Chromflächen erinnern an das Innenleben eines hochgerüsteten Gaming-PCs. Passend dazu präsentieren die Schwaben die zentrale, wassergekühlte Zentral-Recheneinheit (NVIDIA-Prozessor) hinter Glas am vorderen Ende der Mittelkonsole. Es dürfte nicht wenige Fans geben, die sich über solche Gimmicks im Serienmodell freuen würden.

Bei BMW dagegen fügt sich die Innenarchitektur in das neue Gesamtverständnis der Neuen Klasse. Die soll nämlich vor allem das Thema Zirkularität vorantreiben. Es geht also um ein neues Verständnis im Produktions-Kreislauf von Rohstoffen, Materialien und Ressourcen. Zwar gibt es auch im kommenden Elektro-Dreier einen komplett über die Frontscheibenbreite installiertes Head-up-Display. Dennoch wirkt das Bedienkonzept mit nur wenigen Tasten und Screens extrem reduziert. Übrigens wird auch der iDrive-Schalter auf der Mittelkonsole beim nächsten 3er wegfallen.

Multi-Plattform gegen Electric-Only
Sowohl Neue Klasse als auch das CLA Concept sind nicht einfach nur Studien für ein kommendes Modell. Vielmehr stellen die beiden Showcars jeweils eine ganz neue Plattform vor, auf der ab 2025 verschiedenste Autos aus unterschiedlichen Segmenten entstehen werden. Bei BMW ist schon jetzt klar, es wird sich dabei ausschließlich um Elektroautos handeln. Als Erstes könnten statt der vollelektrischen 3er-Limousine die SUV-Varianten (also iX3 und iX4) auf den Markt kommen, erst danach die elektrische 3er-Limousine, die dann wieder i3 Limousine heißen könnte. Jedenfalls will BMW in 24 Monaten nicht weniger als sechs Neue-Klasse-Derivate präsentieren. Darunter dürften auch Touring-Modelle sein. In München geht man davon aus, dass die Marke ab 2030 zu 50 Prozent Neuwagen mit batterieelektrischem Antrieb verkauft.

Mercedes setzt bei der Mercedes Modular Architecture (MMA) dagegen auf eine Mischplattform für E-Antriebe und Verbrenner – so wie bislang BMW bei 5er/i5 und Co. Erstes Modell auf Basis der MMA wird der in München als Concept Car vorgestellte viertürige CLA mit coupéhafter Stufenheck-Karosserie sein. Dessen Serienversion wird Ende 2024 vorgestellt und 2025 auf den Markt kommen. Später dürften eine Shooting-Brake-Version sowie zwei SUV-Ableitungen folgen. Perspektivisch fallen B-Klasse und deren Derivate aus dem Programm. Die Schwaben vereinen damit bisher sieben Baureihen zu vieren. "Wir wollten Komplexität reduzieren und uns fokussieren", sagt Mercedes-CTO Markus Schäfer im Interview bei auto motor und sport.

Elektrische Antriebe an allen Achsen
Viele Details zu den Antrieben hat BMW noch nicht preisgegeben. Das modulare Konzept erlaubt allerdings E-Maschinen an beiden Achsen, was alle Möglichkeiten in Bezug auf die angetriebenen Räder lässt. Derzeit steht bereits das Einstiegsmodell des i4 (eDrive35) mit umgerechnet 286 PS bestens im Futter. Technisch wäre es sogar möglich, dass bei der Neuen Klasse je ein Motor pro Rad installiert wird, was Torque Vectoring auf Rimac-Niveau ermöglichen würde. Die Münchner Entwicklungsabteilung prüft obendrein, ob sich Wasserstofftechnik in Form eines Brennstoffzellenantriebs in die Plattform integrieren ließe. BMW verspricht sich von der eigenen sechsten E-Antriebs-Generation extrem niedrige Verbrauchswerte – bei der Gesamtfahrzeugeffizienz soll die Verbesserung 25 Prozent betragen. Verglichen mit einem i4 xDrive40 wären das bei einem vergleichbaren Neue-Klasse-Modell etwa 12 kWh je 100 Kilometer.

Mercedes leitet seinen E-Antrieb dagegen direkt vom EQXX ab – dem Stromlinien-Konzept, das die Stuttgarter auf der CES in Las Vegas zeigten. In einer kompakten, 175 kW (238 PS) starken Einheit sind der Permanentmagnet-Synchronmotor, das Zweigang-Getriebe und die Leistungselektronik in einem kompakten, weniger als 110 Kilogramm schweren Paket vereint. Der Concept CLA verfügt über Hinterradantrieb. Allerdings ist der Antriebsstrang auch hier skalierbar und kann auch in anderen Fahrzeugsegmenten sowie in einem Allrad-Layout eingesetzt werden. Und anders als bei BMW handelt es sich bei der "Mercedes Modular Architecture" (MMA) um eine Mischplattform, die auch den Einsatz von Verbrennungsmotoren als Hauptantrieb möglich macht.

Neueste Batterietechnik für 750 Kilometer Reichweite
Im Unterboden beider Mittelklasse-Konzepte versteckt sich der gleiche Anspruch an zeitgemäßer Akku-Technik. Mercedes bezeichnet den Concept CLA Class als "Hypermiler” – sinngemäß also ein Auto für viele Kilometer am Stück – und verspricht für die Studie einen Stromverbrauch von nur zwölf Kilowattstunden auf 100 Kilometern. Das soll zu einer WLTP-Reichweite von mehr als 750 Kilometern führen. BMW kontert mit identischen Verbrauchswerten und Reichweiten.

Dass die Bayern mit der Einführung der reinen Elektroplattform von prismatischen Zellen auf Rundzellen umsteigen, sei nur am Rande erwähnt. Aber das Zusammenspiel mit der weiterentwickelten e-Drive-Antriebstechnik der sechsten Generation soll die Gesamtfahrzeug-Effizienz um 25 Prozent verbessern. Wer einen aktuellen BMW i4 xDrive40 als Messlatte nimmt, darf von der Neuen Klasse in den relevanten Elektrothemen etwa ein Drittel mehr erwarten. Mercedes wird dagegen offensichtlich zwei Batterietypen anbieten. In der Einstiegsvariante des künftigen Serienautos sieht Mercedes eine Zellchemie mit Lithium-Eisen-Phosphat vor. Die Topvariante verfügt dagegen über Anoden mit Siliziumoxid-Anteil.

800 Volt und Turbo-Laden sind gesetzt
Sowohl BMW als auch Mercedes setzen bei ihren Plattformen in Zukunft auf 800-Volt-Ladetechnik. Das war schon deshalb überfällig, weil beispielsweise die koreanische Konkurrenz aus dem Hyundai-Kia-Genesis-Konzern längst darauf setzt. Zudem ist das bisherige 400-Volt-Bordnetz auf Ladeleistungen von etwa 200 kW begrenzt – beispielsweise beim BMW i4 oder dem Mercedes EQE. Jetzt sollen 250 kW (Mercedes) beziehungsweise 260 kW (BMW) möglich sein. So könnte der Energievorrat im Falle der Neuen Klasse in nur zehn Minuten für weitere 300 Kilometer aufgefüllt sein. Mercedes spricht von 400 Kilometern in 15 Minuten – einen potenten Schnelllader vorausgesetzt.

Kleiner Theorieteil aus der Elektrotechnik: Die elektrische Leistung setzt sich aus Spannung (in Volt) und Stromstärke (in Ampere) zusammen. Zieht beispielsweise ein elektrischer Verbraucher im Fahrzeug 10 Ampere aus einer 12-Volt-Autobatterie, so stehen ihm 120 Watt Leistung zur Verfügung (10 A x 12 V = 120 W). Belastend für Kabel, Elektronik und übrigens auch den Menschen bei einem Stromschlag sind dabei vor allem die Ampere-Werte. Würde man also die Leistung von 120 Watt aus einem 120-Volt-Bordnetz ziehen, käme man mit nur einem Ampere aus. Weil der Durchmesser quadratisch in die Fläche eingeht, erlaubt die doppelte Spannung theoretisch eine Viertelung des Kabelquerschnitts. Das verringert die eingesetzte Kupfermenge deutlich.

Erhöhung der Bordspannung
Die Erhöhung – oder in diesem Fall sogar Verdopplung – der Bordspannung von 400 auf 800 Volt bringt also vor allem Entspannung in das System. Bei geringerer Ampere-Zahl kann nun nicht nur mit mehr Leistung geladen werden – es erlaubt den E-Maschinen auch deutlich höhere Leistungen aus dem Akku zu entnehmen. Nachteil: Die 800-Volt-Infrastruktur an Bord ist teuer. Komponenten, Steuergeräte und Software müssen quasi neu entwickelt oder zumindest angepasst werden.

Das gleiche Thema betrifft übrigens das vermehrt diskutierte 48-Volt-Bordnetz für die üblichen Verbraucher konventioneller Autos. Auch hier könnten der Materialeinsatz und damit die Produktionskosten deutlich gesenkt werden. Allerdings müssten das Infotainment, alle Steuergeräte, Radios sowie Licht- und Scheinwerfertechnik vom weltumspannenden 12-Volt-Standard auf 48 Volt angepasst werden. Tesla ist der erste Autobauer, der den Wechsel konsequent vollziehen wird. Der kommende Cybertruck wird in dieser Hinsicht wohl eine Vorreiterrolle einnehmen. Weil aber auch andere Hersteller immer mehr stromhungrige Verbraucher in ihre Autos bauen, könnte es bei diesem Thema früher oder später eine Revolution geben.

E-Mittelklasse: Das Tesla-Segment
Dass sich sowohl BMW als auch Mercedes ausgerechnet das Mittelklasse-Segment für ihre neuen Hightech-Modelle ausgesucht haben, dürfte kein Zufall sein. Schließlich hat sich genau hier, im gutbürgerlichen Herz der Traditionalisten, bereits Tesla mit Model 3 und Model Y breit gemacht. Beide Modelle gehören zu den meistverkauften Elektroautos der Welt – selbst in Deutschland.

Bald steht den Amerikanern also der Doppelangriff aus Süddeutschland bevor. Technisch gesehen haben BMW und Mercedes mit ihren Fahrzeugen nicht nur aufgeholt, sondern das gerade gerade geliftete Model 3 sogar überholt. Das setzt nämlich auch in den nächsten Jahren weiterhin auf den bekannten Antriebsstrang und selbst bei der Long-Range-Variante auf die altbewährten 21.700-Rundzellen mit NMC-Chemie (Nickel Mangan Kobalt) und einer Kapazität von 79 kWh und einer Spannung von 400 Volt.

Umfrage
BMW Neue Klasse oder Mercedes CLA Concept – was wäre Ihre Wahl, wenn Sie 2025 ein Elektroauto kaufen müssten?

Fazit
BMW und Mercedes stellen auf der IAA jeweils Elektro-Konzepte vor, die auf neuen Architekturen aufbauen. Beide werden ab 2025 zunächst in der Mittelklasse auf den Markt kommen. Mit 800-Volt-Technik, extrem schneller Wiederaufladbarkeit und Reichweiten von 750 Kilometern werden sowohl Neue Klasse als auch das CLA Concept die technische Basis für viele weitere Derivate bilden. Damit könnte das Tesla-Monopol in diesem Segment (Model 3 und Model Y) gebrochen werden – wenn die Premiumhersteller mit ihren Produktionskosten so große Schritte machen, wie BMW verspricht.

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